Grüner Lobbyismus Dieses Öko-Netzwerk dominiert die deutsche Klimapolitik

Von Stefan Schultz

12.05.2023, 07.27 Uhr

Staatssekretär Patrick Graichen ist Teil eines mächtigen Netzwerks. Mit modernen Methoden und reichen Hinterleuten prägen sie den öffentlichen Diskurs. Teils verwischt die Grenze zwischen Lobbyismus und Politik. Energiestaatssekretär Graichen, Wirtschaftsminister Habeck: Lange Vorarbeit
Foto: Kay Nietfeld / dpa

Das Netzwerk, das wie kein anderes die deutsche Energie- und Klimapolitik lenkt, trifft sich im März 2023 an einem exklusiven Ort. In einem Saal auf Schloss Elmau, in dem im Sommer zuvor der G7-Gipfel getagt hat, kommen auf Einladung der Stiftung Klimaneutralität ein paar Dutzend illustre Gäste zusammen.

Politiker und Lobbyisten, Klimaschützer und Wissenschaftler, Konzernmanager und Banker diskutieren, wie die Industrie auf der ganzen Welt klimaneutral werden kann. Geladen sind nicht nur grüne Geister - auch der Arbeitgeberverband ist bei dem sogenannten "High Level Forum" dabei, ebenso wie ein SPIEGEL-Redakteur.

Viele im Saal kennen sich gut, manche sich noch ein wenig besser. Denn auf Schloss Elmau tummelt sich auch jener Bekanntenkreis, den man als Machtzentrum der deutschen Energiewende bezeichnen kann:

Hal Harvey, ein so mächtiger wie reicher Hintermann, ist bei dem Treffen auf Schloss Elmau nicht zugegen. Trotzdem wäre der Aufstieg dieser Gruppe ohne ihn wohl undenkbar.

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Das Wirken der fünf Männer und ihrer Vertrauten ist teils seit Jahrzehnten verflochten. Denn sie verbindet ein gemeinsames Ziel: die Wirtschaft möglichst CO2-frei zu machen. Sie ziehen so geschickt die Strippen, wie es Industrie- oder Autolobbyisten für ihre Branchen tun - und setzen Lösungen für die wohl größte Krise unserer Zeit politisch durch.

Gleichzeitig verwischen die Grenzen zwischen Lobbyismus und Politik. Vor allem bei Baake und Graichen, die in ihren langen Karrieren oft zwischen Staatsämtern und Lobbyposten hin- und hergewechselt sind.

Das Öko-Netzwerk ist lange bekannt. Doch zuletzt machte es im Zuge von Graichens "Trauzeugenaffäre" wieder Schlagzeilen - teils kombiniert mit absurden Unterstellungen.

Tatsächlich gibt es - außer bei Graichens Trauzeugen - keine Anzeichen für Interessenkonflikte oder Machtmissbrauch. Außerdem sind an Gesetzen stets viele Player beteiligt. Der Einfluss des Öko-Netzwerks ist dennoch groß. Mit all den Chancen und Risiken, die eine solche Machtakkumulation mit sich bringt.

Die Anfänge

Strippenzieher Baake: "Wo Baake ist, ist Graichen nicht weit"
Foto: Jürgen Heinrich / imago images/Jürgen Heinrich

Der Aufstieg der Klimaschützer im Bundeswirtschaftsministerium beginnt vor gut einer Dekade. Lange hatte in dem Haus an der Scharnhorststraße die Überzeugung dominiert, dass der Staat Unternehmen möglichst wenig Regeln auferlegen sollte. Klimaschutz und Wirtschaftspolitik schließen sich nach dieser Logik fast aus. Erst 2013 beginnt die Vorherrschaft ordoliberaler Beamter zu bröckeln.

Es ist die Zeit, in der Sigmar Gabriel von der SPD das Amt übernimmt und einen ungewöhnlichen Energie-Staatssekretär beruft: jenen Rainer Baake, der neuneinhalb Jahre später die globale Klimaschutzelite nach Schloss Elmau einladen sollte.

Die Personalie ist eine Überraschung, denn Baake ist kein Sozialdemokrat, sondern Grüner. Dazu einer, dem ein legendärer Ruf vorauseilt: Der hagere Mann mit dem teils schroffen Auftreten hat als Staatssekretär im Umweltministerium einst das erste Gesetz zum deutschen Atomausstieg mitorchestriert. Industrieleute haben seitdem Respekt vor ihm.

2012 hat Baake Agora Energiewende gegründet, die wohl einflussreichste Denkfabrik für eine CO2-neutrale Gesellschaft im Berliner Politikgeschäft. Patrick Graichen war zu dieser Zeit schon Baakes politischer Ziehsohn.

Näher kennengelernt haben sich die beiden schon 2004 im Bundesumweltministerium. Baake ist zu dieser Zeit Staatssekretär unter Jürgen Trittin, Graichen wird Baakes persönlicher Referent. Als Baake Agora gründet, nimmt er Graichen dorthin mit. Als Baake in Gabriels Ministerium wechselt, ernennt er Graichen zum neuen Agora-Chef. "Wo Baake ist, ist Graichen nicht weit", lautet ein geflügeltes Wort.

Dem Wirtschaftsministerium drückt Baake bald seinen Stempel auf. Er lässt, wo er kann, klimabewegte Beamte einstellen. Die sollen helfen, seine beiden Hauptziele zu erreichen: die erneuerbaren Energien rasch auszubauen und den Atomausstieg zu besiegeln.

Der heute 67-jährige Volkswirt hat schon damals klare Vorstellungen, wie die Energiewende vollzogen werden muss: mit der Umstellung von Wirtschaft und Gesellschaft von fossilen Brennstoffen auf Ökostrom. Dazu zählen nicht nur Autos, sondern auch Wärmepumpen und industrielle Prozesse - soweit das technisch möglich ist. All Electric World nennt die Branche diesen Lösungspfad.

Baake bleibt nicht viel Zeit, um diese Welt vorzubereiten. Nach Gabriel übernimmt der Christdemokrat Peter Altmaier das Ministerium und bremst die Energiewende aus. Baake quittiert öffentlichkeitswirksam den Dienst. Nach seiner Kündigung findet Altmaier über Monate keinen neuen Energiestaatssekretär. Wohl auch deshalb bleiben eine Reihe von Baakes Vertrauten auf ihren Posten.

Der Aufstieg

Klimaschutzlobbyfinanzier Harvey: Millionenspenden und smarte Machtmethoden
Foto: Isaac Brekken / Getty Images

Baake geht nach seiner Kündigung auf Weltreise - in einem Geländewagen mit selbst aufgesetzter Solaranlage für den Strom und die Dusche. Doch selbst aus Australien oder Südamerika zieht er weiter die Fäden in Berlin. Seine Botschaft aus dem Outback: Die Grünen müssen sich auf eine künftige Regierungsbeteiligung vorbereiten. Die Konzepte für die Zeit nach einem Wahlsieg sollten in der Schublade bereitliegen. Erarbeiten soll sie vor allem Agora-Chef Graichen.

Wenn man in Berlin in dieser Zeit über Energie und Klima diskutiert, taucht meist Graichen auf. Oft geht es um sperrige Begriffe, die nur Fachleute verstehen. Um das "Merit-Order-Prinzip" etwa oder den "Locked-in-Effekt". Der rothaarige Mann mit der sonoren Stimme kennt sich wie kaum ein anderer in dieser Fachwelt aus. Dazu kommt sein Geschick, die Mechanik einer Behördenverwaltung zu bedienen.

Die Fähigkeit scheint ihm in die Wiege gelegt zu sein. Seine Mutter arbeitete im Entwicklungsministerium, sein Vater eine Weile im Verkehrsministerium. Er selbst engagiert sich schon als Schüler für Umweltthemen, zunächst in der Jugendorganisation des BUND. 1993 begann er, an der Universität Heidelberg zu studieren. 1996 trat er bei den Grünen ein. 2001 wurde er Referent für internationalen Klimaschutz unter Umweltminister Trittin und arbeitete das Kyotoprotokoll mit aus.

2020 bricht Baake seine Weltreise ab, wegen der Pandemie. Er gründet die Stiftung Klimaneutralität und produziert ebenfalls Studien für den Machtwechsel. In ihren Papieren covern Baake und Graichen so gut wie jedes Klimathema. Es geht um den Umbau der Industrie, den Ausbau der Windkraft oder die Wärmewende. Manches liest sich wie die Blaupause für einen künftigen Koalitionsvertrag.

Förderer Bernhard Lorentz: Ökobewusster Stiftungsmanager
Foto: Jürgen Heinrich / imago images

Finanziert wird die Arbeit von zwei Männern im Hintergrund: Bernhard Lorentz, der als Chef der Mercator-Stiftung die Agora Energiewende mit ins Leben gerufen hat. Und Hal Harvey, einem US-Manager, der seit fast drei Jahrzehnten Umwelt- und Klimaorganisationen auf der ganzen Welt mit Geld versorgt, ausgestattet unter anderem mit den Milliarden philanthropischer Unternehmerfamilien wie den Hewletts.

Harvey sieht in Europa den entscheidenden Vorbereiter für eine klimaneutrale Zukunft. Getreu dieser Überzeugung leitet er Millionen von Dollar über den Atlantik, um Leute wie Baake und Graichen zu unterstützen. Die "Zeit" bezeichnet Harvey als "den mächtigsten Grünen der Welt".

Tatsächlich hat der studierte Politologe, der mit fünf Geschwistern auf einer Farm in Aspen aufwuchs, auch in Deutschland großen Einfluss. Nicht nur über sein Geld, sondern auch über seine Methode.

Die grüne Machtstrategie

Energiestaatssekretär Patrick Graichen zu seiner Agora-Energiewende-Zeit: Kampf um die Köpfe der Wählerinnen und Wähler
Foto: Detlef Eden / picture alliance/dpa

In den USA ist es gang und gäbe, dass talentierte Köpfe mal in Regierungen arbeiten und mal in Thinktanks, wenn sie gerade nicht an der Macht ist. Sie nutzen die Arbeit in den Denkfabriken und bereiten Konzepte für künftige Regierungsarbeit vor.

Harvey perfektioniert dieses System seit Jahrzehnten. Schon 2001 gründete er eine Organisation, um Umweltorganisationen im Kampf gegen die Autolobby zu unterstützen. Denn die leistet sich in manchen Ländern mehr Angestellte, als es Staatsdiener für die Entwicklung von Abgasnormen gibt.

Harvey finanzierte den International Council on Clean Transportation (ICCT), der einige der besten Regulierungsexperten der Welt zusammenbrachte und der Autolobby im öffentlichen Diskurs teils die Deutungshoheit abnahm. 2015 deckte der ICCT die Dieselaffäre bei Volkswagen mit auf.

Deutsche Thinktanks wie Agora Energiewende, Agora Verkehrswende oder die Stiftung Klimaneutralität verfahren nach demselben Muster. Sie rekrutieren mit den Millionenspenden ihrer Förderer Forscher und bauen sich immer mehr Expertenmacht auf. Sie prägen das Denken von Politik und Gesellschaft über Umwelt- und Klimaschutz - und garnieren ihre Studien mit Vorschlägen für Gesetze. Inklusive der von ihnen favorisierten Lösungswege.

Energieexperte Matthes: Ideologisches Kraftfeld
Foto: Soeren Stache / picture alliance / dpa

Ein anderes ideologisches Kraftfeld in Sachen Klimaschutz ist das Freiburger Öko-Institut, das sich unter anderem durch Regierungsaufträge finanziert. Es beherbergt mit dem Forschungskoordinator Felix Matthes einen weiteren Granden globaler Klimapolitik.

Matthes hat nicht nur den europäischen Emissionshandel mit durchgesetzt. Er sitzt auch in vielen Expertenkommissionen, die das Wirtschaftsministerium zu energiepolitischen Fragen einberuft. Zuletzt schaffte er es im Juli 2022 in eine Kommission zum Monitoring der Energiewende.

Das Öko-Institut steht seit der "Trauzeugenaffäre" in der Kritik. Denn dort arbeiten Graichens Geschwister Jakob und Verena. Zudem ist Matthes mit der Grünenpolitikerin Regine Günther verheiratet, die gemeinsam mit Baake die Stiftung Klimaneutralität leitet.

Die familiären Verbindungen haben für Misstrauen gesorgt. Doch das Wirtschaftsministerium verweist auf die internen Compliance-Regeln . Graichen darf seinen Geschwistern beim Öko-Institut keine Aufträge erteilen. Tatsächlich hat das Öko-Institut unter Graichens Ägide weniger Aufträge vom Ministerium erhalten als in der Zeit der Großen Koalition.

Der Einfluss der grünen Vorfeldorganisationen ist dennoch unbestritten. Sie haben der Partei in Sachen Klimaschutz einen großen Wissensvorsprung beschert. Und mit diesem Wissen wuchs die Attraktivität der Partei.

Andere Parteien haben in diesem Bereich lange geschlafen. Die CDU mischt erst seit Kurzem auf dem Spielfeld der Klima-Thinktanks mit. Im Februar 2021 gab die Union die Gründung der Denkfabrik Epico bekannt.

Gründer und Geschäftsführer ist Bernd Weber, der zuvor beim Wirtschaftsrat der CDU den Bereich Industrie, Energie und Umwelt leitete. Dem Beirat sitzt Unionsfraktionsvize Andreas Jung vor. Finanziert wird der Thinktank von der Konrad-Adenauer-Stiftung, dem von Microsoft-Gründer Bill Gates initiierten Organisationsgeflecht Breakthrough Energy und von der European Climate Foundation, deren Gründung 2008 auch Harvey unterstützte.

Einen etwas anderen Weg schlug der FDP-Politiker Frank Schäffler ein, den man vor allem durch seine Kritik an der deutschen Euro-Politik kennt. Der Parlamentarier gründete 2014 die Denkfabrik Prometheus, die unter anderem gegen zu starke Umweltauflagen für Unternehmen lobbyiert.

Unterstützt wird Prometheus durch das Atlas Network. Dessen Sponsoren sind unter anderem ExxonMobil, Philip Morris und Stiftungen der US-Milliardäre Charles und David Koch, letzterer ist 2019 gestorben. Die libertären Industriemagnaten unterstützen auch ultrakonservative Kreise in den USA wie die Tea-Party-Bewegung.

Im Zentrum der Macht

Graichen, Habeck: Unbequeme Fragen zum Chefposten der Dena
Foto: MICHELE TANTUSSI / REUTERS

Je näher die Bundestagswahl 2021 rückt, desto fleißiger arbeiten Agora Energiewende und die Stiftung Klimaneutralität. Eine Zeit lang machen sich die Grünen sogar Hoffnungen auf das Kanzleramt. Nach der Wahl am 26. September 2021 bildet sich eine Ampelkoalition.

Die Grünen bestreiten mit der Expertise aus Baakes und Graichens Studien die Koalitionsverhandlungen. Robert Habeck, der neue Minister für Wirtschaft und Klimaschutz, macht Graichen zu seinem Energiestaatssekretär. Beide sollen sich schnell näher kennenlernen.

Am 24. Februar 2022 marschiert Russland in die Ukraine ein, und die Republik steckt bald darauf in einer Energiekrise. Es geht jetzt um Gasterminals, den Kampf gegen teure Energiepreise und die Reaktivierung alter Kohlekraftwerke. Für Graichen ist das der reinste Horror. Er schuftet bis spät in die Nacht, über Wochenenden hinweg. Bis zur physischen Erschöpfung organisiert er das, was er eigentlich abbauen will.

Graichens Team gelingt es, die Gasspeicher zu füllen. Er lässt im Rekordtempo Terminals für Flüssigerdgas bauen. Doch dem Staatssekretär passieren auch Fehler. Lange beharrt er auf einer Umlage, mit der Energiekunden den Zusammenbruch der großen Gaslieferanten verhindern sollen - auch als die Bürgerinnen und Bürger sich längst darüber entrüsten. Hohe Gaspreise seien doch gut, argumentiert Graichen. So könne man die Leute zum Energiesparen bewegen. Am Ende muss er einknicken.

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Es folgt die heftige Auseinandersetzung um die drei verbliebenen Atomkraftwerke. Habeck will sie nicht im Dezember abschalten, sondern über den Winter weiterlaufen lassen. Doch seine grünen Parteifreunde sind dagegen. Daraufhin ersinnt Graichen die Idee, zwei der drei Meiler in eine Sicherheitsreserve zu überführen. So könne man sie wie geplant abschalten und müsse sie nur bei größter Stromnot wieder hochfahren, sagt er.

Doch Graichens Plan geht nicht auf. Ein AKW-Betreiber fühlt sich vom Staatssekretär übergangen. Das mit der Reserve gehe so nicht, heißt es. Habeck muss zurückrudern, der Kanzler ein Machtwort sprechen. Der Wirtschaftsminister steht blamiert da.

Den wohl größten Schaden nimmt Habecks Image mit dem sogenannten Gebäudeenergiegesetz, das ebenfalls unter Graichens Federführung entsteht. Darin soll geregelt werden, dass neu eingebaute Heizungen ab 2024 zu 65 Prozent mit erneuerbaren Energien betrieben werden müssen. Das Vorhaben zeigt, wie Graichen tickt. Sein Ideal ist noch immer die All Electric World.

Beim Heizen setzt er voll auf Ökostrom. Die Wärmepumpe soll als künftiger Standard fossile Brennstoffe ersetzen. Doch das ist eine Kampfansage an mächtige Teile der Energiewirtschaft. Vor allem an die Stadtwerke, die mit dem Vertrieb und Verkauf von Erdgas Milliarden machen. Bei einem Kongress im Mai 2022 stößt Graichen die Branche vor den Kopf. "Die Aufgabe der Stadtwerke ist es, den Rückbau der Gasnetze zu planen", sagt er. Der Auftritt macht ihm Feinde. Knapp ein Jahr später wird die Sache mit Graichens Trauzeugen bekannt.


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